„Die AEH-Fachkraft hat mich immer beruhigt, wenn es schwierig war“
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31/03/2021„Das Kind ist nicht das Problem, das Kind hat ein Problem!“
Werden Kinder in der Schule auffällig, ist es wichtig, nicht das Kind als Problem zu identifizieren, das es zu behandeln gilt. Der wichtigste Schritt für Kontaktpersonen ist es dann, behutsam Vertrauen aufzubauen, sagt Alexander Harman, sozialpädagogische Fachkraft in der Intensiven Sozialpädagogischen Einzelbetreuung (ISE) bei NEUE WEGE.
Lieber Alexander, wie kann ich als Lehrkraft oder pädagogische Bezugsperson erkennen, dass ein Kind zu Hause Missbrauch oder Gewalt erfährt?
Alexander Harman: Es gibt kein einheitliches Merkmal dafür, Kinder reagieren oft sehr unterschiedlich auf häusliche Gewalt. Manche Kinder zeigen aggressives oder renitentes Verhalten und fallen auch störend im Schulkontext auf. Diese Kinder und Jugendlichen gehen mit ihrem Schmerz und Leiden nach außen und machen laut auf sich aufmerksam. Sie reproduzieren die selbst erfahrene Gewalt nach außen.
Und dann gibt es Kinder und Jugendliche, die verstummen. Sie fühlen sich oft mitschuldig an der erfahrenen Gewalt, fühlen sich ihrem Familiensystem gegenüber verpflichtet und werden so zu Geheimnisträgern. Sie ziehen sich weitgehend aus gesellschaftlichen Aktivitäten zurück und versuchen unsichtbar zu werden. Auch positive Aufmerksamkeit mögen sie nicht, sie können beispielweise schlecht mit Anerkennung oder einem Lob der Lehrkraft umgehen.
Diese Kinder sind schwieriger zu identifizieren, aber auch sie können Signale nach außen senden. Kleinere Kinder verarbeiten ihre Erlebnisse beispielsweise oft in Rollenspielen oder beim Malen. Zum Teil werden Erlebnisse sehr deutlich reinszeniert. Erlebte sexuelle Gewalt kann als altersunangemessenes sexualisiertes Verhalten erscheinen. Auch Verwahrlosung, die nach außen hin sichtbar ist, wie Körpergeruch und das Verweigern des Kindes sich zu waschen, kann ein Indiz sein.
Zu den auffälligsten Warnsignalen gehören plötzlich eintretende und langanhaltende Verhaltensänderungen, die sich als Persönlichkeitsveränderung zeigt. Oft wird als Erklärungsversuch zunächst die Pubertät herangezogen, doch da sollte man genauer hinschauen. Während die Pubertät die Persönlichkeit der Kinder facettenreicher macht, also eher eine Erweiterung der Persönlichkeit und somit eine gesunde Heranreifung darstellt, können traumatisierende Erlebnisse die Persönlichkeit wirklich verändern, was auch durchaus erkennbar ist, zum Beispiel durch plötzliche Verstummung oder gewalttätiges Auftreten.
Manche Kinder zeigen auch überhaupt keine Symptome …
Alexander Harman: Ja, für Kinder und Jugendliche, die seit frühem Lebensalter immer wiederkehrende Gewalterfahrungen machen, ist Gewalt Alltag, daher zeigen sie keine plötzliche und starke Veränderung ihres Verhaltens. Bei diesen Kindern und Jugendlichen kann ein überangepasstes und dabei introvertiertes Verhalten auffällig sein.
Wenn ich den Verdacht auf Kindeswohlgefährdung habe, was sind meine nächsten Schritte?
Alexander Harmann: Die wichtigste Basis um Kindern und Jugendlichen zu helfen und Gewalterfahrungen zu erkennen, ist recht schlicht. Es ist die Schaffung einer Vertrauensbasis. Grundlage dafür ist das Wissen, dass auffällige oder unauffällige Kinder dies nicht von Natur aus sind. Ihr Verhalten ist den Umständen geschuldet, mit denen sie umgehen müssen. Kinder und Jugendliche sind in den allermeisten Fällen ein Spiegel dessen, womit sie in ihrem Leben konfrontiert wurden und dem was sie daraus gemacht haben. Kinder, die Missbrauch und Gewalt erfahren haben, sind es meist gewohnt, dass ihre Grenzen missachtet werden und Autoritäten gefährlich sein können, da sie mächtiger sind, als sie selbst. Kinder im Allgemeinen, aber besonders die mit Gewalterfahrung, merken sofort, ob sie ein Erwachsener ernst und für vollwertig nimmt oder eben nicht.
Dem tendenziell hierarchischen Lehrer-Schüler-Verhältnis liegt oft per se ein Misstrauen inne, daher ist es besonders wichtig, dass Lehrer einen Blick hinter die Kulissen des sichtbaren Verhalten des Kindes werfen, beispielsweise auf dessen soziale Umgebung.
Was brauchen Kinder, damit sie über ihre Erfahrungen sprechen können?
Alexander Harman: Im besten Fall gibt es an der Schule eine ausgebildete Fachkraft, zum Beispiel eine Schulpsychologin, die ein regelmäßiges Gesprächsangebot liefern kann. Es braucht oft Zeit bis Kinder und Jugendliche sich trauen, mit Scham und Schuld besetzte Themen andeuten zu können. Leider passiert es auch häufig, dass Kinder, die sich mit ihren Gewalterfahrungen an Erwachsene wenden, nicht ernst genommen und übergangen werden oder ihnen nicht geglaubt wird. Nach einer solchen Erfahrung verstummen viele Betroffene wieder.
Wenn sich der Verdacht auf Kindeswohlgefährdung konkretisiert, was wäre der nächste Schritt?
Alexander Harman: Oftmals gibt es ein durch die Schulleitung vorgegebenes Prozedere, welches seitens der Schule eingehalten werden soll. Schutzkonzepte und Verfahrensweisen, die ein Meldesystem vereinfachen sind sinnvoll, gleichzeitig sollte durch die Schulleitung immer die Möglichkeit gegeben werden, sich direkt an ein Jugendamt wenden zu können. Sollten Lehrkräfte unterstützende Beratung bei der Erstellung einer Kindeswohlgefährdung nach § 8a SGB VIII benötigen, können sie sich dazu an den Schulsozialarbeiter oder an das Jugendamt wenden.
Ist es sinnvoll, mit den Eltern zu sprechen?
Alexander Harman: Dies sollte immer im Vorfeld mit einer Fachkraft, zum Beispiel. einem Schulsozialarbeiter oder, falls es anonym sein soll, in einer telefonischen Beratungsstelle besprochen werden. Besonders der Wunsch des Kindes oder Jugendlichen ist hierbei zu achten. Das Vorgehen in solchen Fällen sollte immer ein gemeinsames, mit der oder dem Betroffenen, sein. Die Grenzen und das Vertrauen der Kinder sind ein hohes Gut, welches bereits stark gelitten hat. Auch wenn nicht jeder Wunsch eines oder einer Betroffenen Berücksichtigung finden kann, so sollte wenigstens das Vorgehen ruhig und transparent erklärt werden.
Vielen Dank, lieber Alexander.