Die wichtigsten Fragen zu Mehrsprachigkeit bei Kindern
11/02/2021Sinneserfahrung im Winter
25/02/2021„Von zuhause auszuziehen war das einzig Richtige. Keiner sollte so leben müssen.“
Yvonne, heute 18 Jahre alt, (Name von der Redaktion geändert), ist mit 12 Jahren von Zuhause, einem Umfeld, in dem sie viel Gewalt ausgesetzt war, ausgezogen. Wir haben mit ihr über ihren Weg und ihre Erfahrungen in der Jugendhilfe gesprochen.
Liebe Yvonne, in welcher Situation warst Du damals, als Du Dich entschlossen hast, von Zuhause auszuziehen?
Yvonne: Ich hab‘ es dort einfach nicht mehr ausgehalten. Damals habe ich mit meiner Mutter, meinem Stiefvater und meinen Halbgeschwistern zusammengelebt und eigentlich gab es jeden Tag Stress und Gewalt – psychische oder körperliche.Wenn es mir nicht gut ging, habe ich durch meine Eltern keine Unterstützung bekommen, sondern wurde lächerlich gemacht. An einem Donnerstagabend hab‘ ich dann zu meiner kleinen Schwester gesagt, dass ich nicht mehr kann und ausziehen möchte. Das ist mir sehr schwer gefallen, da ich meine Schwester quasi großgezogen habe. Ich hab‘ mit ihr alles gemacht, was meine Eltern nicht geschafft haben. Sie hat sehr geweint.
Das war sicher kein einfacher Schritt. Wie hast Du den Mut dafür aufgebracht?
Yvonne: Ich hatte Angst, dass ich einen Fehler mache, wenn ich von zuhause weggehe, vor allem, weil meine Schwester dann ja alleine sein würde. Und meine Eltern haben mir ein Heim immer schlecht geredet.
Glücklicherweise hatte ich in dieser Zeit, auch Menschen, denen ich mich anvertrauen konnte: Meine Patentante, meine Großeltern und eine gute Freundin kannten meine Situation. Sie haben mir zugehört, mich gestützt und ermutigt. In der Schule wussten die Lehrkräfte auch, dass es mir nicht gut geht. Sie haben ja meine Verletzungen und blauen Flecken gesehen und haben auch immer gefragt, was los sei. Irgendwann habe ich mich dann der Schulsozialarbeiterin in der Mittelschule anvertraut. Sie hat mir gesagt, dass ich Bescheid geben solle, wenn ich es nicht mehr aushalte.
Ab dem Moment, in dem ich beschlossen habe, dass ich ausziehen möchte, ging dann alles ganz schnell. Ich habe eine Nacht bei meiner Freundin geschlafen und am nächsten Tag bin in die Schutzstelle.
Was hat sich in der Schutzstelle für Dich verändert?
Yvonne: Am Anfang war es nicht so leicht. Ich vermisste mein Zuhause und es ging mir nicht gut. Gleichzeitig hatte ich Angst, dass meine Mutter mich findet oder dass ich sie zufällig treffe (was auch tatsächlich einmal passiert ist), aber mit der Zeit glaubte ich immer mehr daran, dass ich mich in der Schutzstelle sicher fühlen kann.
Bei meinem Einzug bekam eine Betreuerin zugewiesen. Es dauert ein wenig, bis ich Vertrauen zu ihr aufgebaut hatte. Aber wir haben uns viel unterhalten und mit der Zeit ging es mir immer besser. Ich habe in dieser Zeit gelernt, über mich zu sprechen und auch über meine Gefühle. Das hat zuhause keinen interessiert.
Wie ging es dann für Dich weiter?
Mit ungefähr 13 Jahren sollte ich dann in die stationäre Jugendhilfe umziehen. Dazu durfte ich mir verschiedene Wohngruppen anschauen, aber eigentlich hat mir mein Bauchgefühl schon bei der ersten signalisiert, dass ich dort einziehen will. Meine Mitbewohner und Mitbewohnerinnen haben mir das Einleben sehr erleichtert, sie haben waren alle sehr nett und haben mir alles Wichtige gezeigt. In den Jahren, in denen ich dort gelebt habe, fühlte ich mich wie in einer richtigen Familie. Teilweise bin ich mit den Leuten, die ich aus der Zeit kenne, immer noch befreundet. Und gerne erinnere ich mich an eine ältere Betreuerin, die war so etwa 60 Jahre alt, sehr einfühlsam und fast wie ein kleiner Engel für mich.
Natürlich gab es auch mal Streitigkeiten oder Meinungsverschiedenheiten – auch mit den Betreuern, aber es war immer fair. Ich finde, dass ich in dieser Zeit immer mehr ICH geworden bin. Im Zusammenleben mit den anderen, habe ich gelernt, meine Meinung zu vertreten und „Nein“ zu sagen. Wir hatten beispielsweise jeden Sonntag WG-Gespräche, in denen jeder sagen konnte, was in der WG gut oder weniger gut lief. Und während ich am Anfang noch die Wäsche der Jungs mitgewaschen habe, haben sie das irgendwann selbst lernen müssen (lacht).
Heute lebst Du in einer einzelbetreuten 2er WG von NEUE WEGE?
Ja, meine Betreuer in der vollbetreuten Wohngruppe wie auch das Jugendamt fanden, dass ich schon selbständig genug für eine einzelbetreute Maßnahme war, da ich schon in der stationären Einrichtung häufig gekocht habe und auch meine Wäsche selbst waschen konnte. Ich habe mich dann beim SBW-Team von NEUE WEGE vorgestellt und wieder hat mir mein Bauchgefühl gesagt, dass das gut für mich passt. Meinen Alltag in einer 2er-WG bewältige ich nun allein, aber ich kann unter der Woche immer meine Betreuerin Lena kontaktieren, wenn ich doch mal Unterstützung brauche oder Redebedarf habe. Zusätzlich haben wir auch feste Termine miteinander. Ihr kann ich alles erzählen, auch wenn mal was scheiße lief. Sie unterstützt mich, wenn ich mal wieder überfragt bin, was ich kochen soll oder wenn ich Hilfe bei den Englisch-Hausaufgaben brauche. Und manchmal gibt sie mir auch einfach einen kleinen Tritt in den Hintern, damit ich mich wieder aufraffen kann, weiterzumachen. Es ist nicht immer leicht, den Alltag so selbständig zu bewältigen, aber dank der Begleitung, habe ich das Gefühl, es schaffen zu können.
Bekommst Du zusätzliche Hilfen im Alltag?
Yvonne: Seit vielen Jahren mache ich eine Therapie, um die Gewalterfahrungen zu verarbeiten. Die Sitzungen bauen mich immer wieder auf. Die Therapeutin hat mir auch sehr bei meiner Angst vor den Hilfeplangesprächen, bei denen auch meine Mutter immer anwesend war, geholfen. Ich habe Strategien gelernt, um mit den schlechten Gefühlen vor und während der Gespräche umzugehen.
Hast Du einen Rat für Kinder und Jugendliche, die sich in einer ähnlichen Situation wie Du damals befinden?
Yvonne: Vertraut euch jemandem an und sprecht über eure Situation. Vielleicht habt ihr Freunde oder Familienmitglieder, mit denen ihr euch gut versteht. Wenn ihr euch mitteilen könnt, werden die Päckchen, die ihr tragt, leichter. Wenn ihr es schafft, sprecht mit eurer Schulsozialarbeiterin oder eurem Schulsozialarbeiter. Die sind dafür da, euch zu helfen.
Ich hatte ja damals Angst, dass es ein Fehler sein könnte, von zuhause wegzugehen, aber heute weiß ich: Es war definitiv kein Fehler, keiner sollte so leben.
Wäre ich zuhause geblieben, wäre ich heute bestimmt nicht so selbstbewusst, wie ich es heute bin. Ich habe mich selbst viel besser kennen gelernt und habe das Gefühl, dass ich heute viel mehr „ICH“ bin und auch sein darf. In den letzten Jahren habe ich auch gelernt, über mich zu sprechen, über Probleme oder über das, was mich stört, zum Beispiel mit meinem Freund. Vor ein paar Jahren hätte ich mich das nicht getraut. Mittlerweile habe ich auch wieder Kontakt zu meiner Mutter, aber mein Verhalten ihr gegenüber hat sich verändert: Nun kann ich auch mal auf den Tisch hauen und sie in ihre Grenzen weisen, wenn mir was nicht passt oder sie sich unfair verhält.
Vielen Dank, liebe Yvonne.
Foto: Jen Theodore von Unsplash