„Beziehungsarbeit ist der lebendige Kern unserer Arbeit in der AEH“
01/03/2023Generationenwechsel in der Geschäftsführung von NEUE WEGE e.V.
17/05/2024Interview mit J. über ihre Zeit in der Jugendhilfe und ihren baldigen Eintritt in die Verselbständigung
Liebe J., Du stehst ja kurz vor dem Austritt aus der Jugendhilfe und bist dann eine sogenannte Careleaverin. Magst Du kurz erzählen, wie Dein Weg in der Jugendhilfe war und was Du aus dieser Zeit mitgenommen hast?
J.: Mit 10 Jahren bin ich zu meiner Pflegefamilie, der Familie meiner Halbschwester, gekommen und habe dort bis eine Woche nach meinem 18. Geburtstag gelebt. Dann habe ich mich dazu entschlossen, in eine Wohngruppe einzuziehen und war dort etwa zwei Jahre lang. Im Sommer 2021 bin ich dann in das sozialpädagogisch betreute Wohnen bei NEUE WEGE gewechselt und wohne in diesem Rahmen bis heute in einer Ein-Zimmer-Wohnung.
Eigentlich habe ich schon nach einem halben Jahr bei meiner Pflegefamilie gemerkt, dass ich von dort weg will, aber ich hatte Angst davor, sie zu enttäuschen. Ich dachte, ich müsste denen zeigen, wie dankbar ich bin und habe mich nicht getraut, zu gehen.
In der Familie meiner Halbschwester fühlte ich mich ständig wie im Überlebensmodus. Ich war froh, dass ich irgendjemand hatte, bei dem ich leben kann. Aber natürlich war es sehr eng, sie hat ja auch eigene Kinder. Wir haben uns zu dritt ein Zimmer geteilt. Wegen mir musste sich die Familie auch ein größeres Auto anschaffen, weil wir plötzlich vier statt drei Kinder waren. Irgendwie habe ich mich immer wie eine Last und einfach nicht wohl gefühlt. Ich konnte mich dort auch gar nicht richtig entfalten, weil ich mich immer anpassen musste und das machen musste, was mir gesagt wurde. Dadurch habe ich mich auch ein wenig selbst verloren. Doch obwohl mich meine Pflegeeltern auch schlecht behandelt haben, habe ich mich nicht getraut zu gehen.
Als ich dann später ausgezogen bin, habe ich gemerkt: Das mit der Jugendhilfe, hätte ich viel früher machen sollen. Dann hätte ich ein bisschen früher glücklich sein können.
Wovor hattest Du Angst?
J.: Ich habe nicht wirklich eine Option gesehen, wo ich hingehen könnte. Meine Vormündin vom Jugendamt hat mich zwar seit ich 14 war immer wieder gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, in eine Wohngruppe zu ziehen, aber ich habe immer nein gesagt, weil man ja immer so schlechte Sachen hört vom Heim und ich mir das ganz schlimm vorgestellt habe. Zum Beispiel dachte ich, dass das einen die Betreuer den ganzen Tag nerven, oder das da ganz viele asoziale Kinder sind, weil es muss ja irgendeinen Grund haben, dass die da sind (lacht). Ich glaube, das hat mir auch meine Pflegefamilie ein bisschen so eingetrichtert.
Gleichzeitig war ich aber schon neugierig und habe meine Vormündin gefragt, wie es dort abläuft. An einem Probetag in einer WG, durfte ich mir dann alles anschauen und habe gleich gemerkt, dass es ganz anders ist als in meiner Vorstellung und außerdem viel lockerer, als bei meiner Halbschwester.
Und dann hatte ich eine Freundin, die auch mit mir in der Klasse war und mit der ich mich sehr gut verstanden habe. Und die war einfach genau in der WG, in die ich wollte. Und sie hat mir eigentlich immer erzählt, dass es ihr voll gut gefällt.
Trotzdem hat es noch ein paar Jahre, bis zu Deinem 18. Geburtstag, gedauert, bis Du dann endlich ausgezogen bist …
J.: Ja, ausschlaggebend war tatsächlich mein 18. Geburtstag. Es war dieses Altersding, dass mir irgendwie ein Gefühl von Sicherheit gegeben hat. Ich war halt dann auch so richtig erwachsen. Davor hatte ich mich immer so ein bisschen unsicher gefühlt und wusste nicht, ob ich das alles alleine hinkriege.
Gibt es etwas, was Du in Deiner Zeit in der Jugendhilfe besonders gut fandest?
j.: Was ich besonders schön fand, ist, dass man selbst entscheiden kann, was man macht, wie man sein will und wie man sich kleiden will. Oder auch wie man sein Zimmer oder seine Wohnung einrichtet. Das hatte ich vorher nie wirklich – es ging immer darum, wie wollen es die anderen. Aber ich konnte einfach nie wirklich ich selbst sein.
Oder als ich ins SBW gezogen bin und rausgehen konnte, ohne Lena (meine Betreuerin) um Erlaubnis zu fragen. Das hat mir eigentlich immer am besten gefallen. Obwohl das am Anfang für mich erstmal ein ganz schöner Schock war, als eine einfach rausgegangen ist. Das war mein erster Gedanke: „Wow! Ihr dürft einfach so gehen?!“
Ja, also, das Gefühl von Freiheit und die Möglichkeit mich frei zu entfalten war so eine entscheidende positive Erfahrung. Aber auch, dass ich einfach eine Jugendliche sein durfte.
Und war etwas in dieser Zeit auch besonders herausfordernd für Dich?
J.: Also am Anfang eigentlich nicht, da fand ich alles perfekt. Während bei meiner Schwester alles sehr streng war, erlebte ich dort den Alltag als voll locker und gut. Ich musste dort nur einmal die Woche meinen Dienst erledigen und nicht jeden Tag (lacht).
Aber nachdem ich dann fast zwei Jahre dort war, habe ich gemerkt, dass es nun Zeit für mich ist, alleine zu wohnen. Die Betreuer haben mich ein wenig genervt und ich hatte irgendwie auch keine Lust mehr, mich an die ganzen Regeln in der Wohngruppe zu halten. Ich war an dem Punkt, an dem ich endlich meine eigenen Regeln aufstellen wollte.
Und so hatte ich dann ein neues Ziel: Endlich alleine zu wohnen und alles selbst entscheiden zu können. Und dann habe ich mich für eine Ein-Zimmer-Wohnung im Sozialpädagogisch Betreuten Wohnen bei NEUE WEGE beworben – und sie auch bekommen.
Obwohl diese Entscheidung natürlich auch Mut erforderte, war sie gut. Am Anfang war es mir tatsächlich ein wenig zu ruhig, alleine in der Wohnung. Du hast plötzlich niemanden mehr, mit dem Du einfach quatschen kannst. Wenn Essen fehlt, ist keiner da, bei dem Du Dir was leihen kannst. Oder wenn Du Lust hast etwas mit Leuten zu machen und dann keiner Zeit hat. In solchen Momenten fühlt man sich schon einsam.
Aber heute denke ich, dass es schon gut ist, zu wissen, wie es ist, alleine zu wohnen. Ich finde, man lernt da auch viel dazu.
Aktuell bist Du in einer Ausbildung. Was genau machst Du gerade?
J.: Aktuell bin ich in einer Schule für Ernährung und Versorgung und lerne viel im hauswirtschaftlichen wie auch im Ernährungsbereich.
Die Ausbildung dauert zwei Jahre. Im kommenden Sommer werde ich sie abschließen und dann will ich eine Weiterbildung machen. Und irgendwann auch auf die Fachakademie gehen.
Bald wirst Du auch aus dem SBW ausziehen. Wann genau ist es soweit?
J.: Im Mai, also in zwei Monaten. Ich habe noch eine andere Schwester mit der ich dann zusammenziehen werde. Es war schon immer ihr Traum, mit mir zusammen zu wohnen, wenn ich alt genug bin. Eigentlich wollte sie das schon vor zwei Jahren, aber ich wollte erstmal eine Zeit lang meine eigene Wohnung haben.
Aber jetzt, wo ich weiß, wie es ist, alleine zu leben und welche Vor- und Nachteile es gibt, finde ich, dass jetzt wieder ein guter Zeitpunkt ist, mit jemandem zusammen zu wohnen.
Fühlst Du Dich durch Deine Zeit in der Jugendhilfe gut vorbereitet darauf, dass Du jetzt dieses System verlässt?
J.: Ja. Und gleichzeitig bin ich sehr glücklich, dass ich mich in Stufen darauf einstellen konnte – also von der Wohngruppe zur eigenen Wohnung mit Betreuung und hin zum Stehen auf eigenen Beinen.
Dass ich dabei nicht ganz alleine bin, sondern mit meiner Schwester zusammen, macht das Ganze ein bisschen einfacher.
Welche Themen beschäftigen Dich im Vorfeld Deines Auszugs aktuell besonders? Und fühlst Du Dich durch Deine Zeit in der Jugendhilfe gut vorbereitet?
J.: Vor allem drei Dinge.
Zum einen die Organisation des Umzugs. Da gibt es echt ganz schön viel zu tun.
Dann die Veränderung, die auf mich zukommt, wenn ich wieder mit jemandem zusammenziehe. Denn das bedeutet, dass ich zukünftig nicht mehr alles selbst bestimmen kann, sondern Kompromisse finden muss.
Und ein bisschen Sorgen machen mir auch so bürokratische Dinge, wie Anträge, z.B. Bafög-Antrag und Formulare, die ich zukünftig selbst ausfüllen muss. Ich finde, wenn ich die Briefe bekomme, dann muss ich mir das auch echt richtig gut durchlesen, damit ich überhaupt verstehe, was die eigentlich von mir erwarten. Aber ich denke, dass das viele damit Probleme haben (lacht).
Aber sonst fühle ich mich eigentlich gut vorbereitet. Ich finde, dass ich schon zu Beginn meiner Zeit in der Jugendhilfe sehr selbständig war und dann habe ich während dessen auch noch einiges mitgenommen, z.B. wie man Strom abliest. Und eigentlich habe ich mittlerweile schon Erfahrung beim Anträge ausfüllen und weiß, was die wollen.
Worauf freust Du Dich besonders in Deinem neuen Lebensabschnitt?
J.: Ich glaube, über noch mehr Verselbständigung. Also man ist im SBW zwar auch selbständig, aber man hat trotzdem einen Betreuer oder eine Betreuerin und ich freue mich einfach auf dieses Neue, also, dass man wirklich alleine dasteht.
Dass Du niemanden hast, der im Ernstfall für Dich einspringt, sondern, dass Du Dich dann alleine durchfuchsen musst …
J.: Ja, auch wenn das blöd klingt, aber darauf freue ich mich eigentlich schon.
Klingt abenteuerlustig, Du bist also vor allem neugierig auf den neuen Lebensabschnitt.
J.: Ja, ich mag gerne neue Sachen. Ich meine, da ist ja alles anders. Die Wohnung sieht anders aus, der Schulweg ist anders. Auch so Kleinigkeiten, alles wird sich einfach ändern.
Gibt es etwas, das Du anderen Jugendlichen mit einem ähnlichen Lebenslauf wie Du mitgeben möchtest?
J.: Ja. Dass sie sich auf angebotene Hilfe einlassen sollen, anstatt sich zu verschließen. Es gibt viele Möglichkeiten der Unterstützung, aber man muss sie auch annehmen.
Und dann noch, dass man sich nicht so viel Stress mit allem machen sollte. Das ging mir auch so, ich war oft richtig vom Leben gestresst. Mittlerweile versuche ich alles ruhiger angehen zu lassen, da der Stress am Ende eh nichts bringt. Und daher ist mein Rat: Versucht das Leben gechillter angehen zu lassen!
Vielen Dank für das Interview liebe J.
Foto: Simon Maage auf Unsplash