Sport = Luxus in der Jugendhilfe?
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11/03/2022Interview mit Sonja und Jordan über ihre Erfahrungen beim Surfprojekt der ISE24
Unsere ISE-Fachkraft Sonja Scherber hat für die Jugendlichen der ISE im vergangenen Jahr ein Surfprojekt in Kooperation mit dem Träger „wirmachenwelle“ realisiert. Den Abschluss des Projekts bildete ein Reise zu einem Surfcamp auf Sylt. In diesem Interview erzählen Sonja und Jordan, die an dem Projekt teilgenommen hat, was sie dabei erlebt haben, welchen Herausforderungen sie begegnet sind und was sie jeweils für sich mitgenommen haben.
Liebe Sonja, wie bist Du auf die Idee gekommen, beim Surfprojekt von „Wirmachenwelle“ mitzumachen?
Sonja: Die Naturgewalt des Meeres und die unglaubliche Kraft von Wellen faszinieren mich eigentlich schon seit ich mich erinnern kann. Ich bin selbst begeisterte Surferin. Irgendwann stieß ich auf das Konzept der Surftherapie, das mich auch aufgrund meiner eigenen Erfahrungen begeistert und überzeugt hat.
Als ich von dem Projekt von „wirmachenwelle“ hörte, habe ich mich sofort beworben, da ich diese Erfahrungen gerne auch unseren Jugendlichen aus der ISE24 ermöglichen wollte. Nachdem ich die Mittel dafür beantragt hatte und zwei Jugendliche sich darauf einlassen wollten, ging es auch schon los.
Und Jordan, was hat dich dazu bewegt, bei diesem herausfordernden Projekt mitzumachen?
Jordan: Als Sonja von dem Projekt erzählt hat, fand ich es zwar ganz cool, aber eigentlich habe ich nur mitgemacht, weil ein guter Freund von mir sich auch angemeldet hat. Der ist allerdings ein paar Stunden vor Abfahrt abgesprungen, so dass ich dann letztendlich – nachdem ich kurz überlegt habe ebenfalls abzuspringen (lacht) – mit Sonja alleine gefahren bin.
Ihr habt euch ja ca. ein halbes Jahr gemeinsam auf dieses Projekt vorbereitet. Was waren die Bestandteile dieser Vorbereitung?
Sonja: Unsere Ziele waren vorrangig, das gesamte Projekt als Gruppe zu gestalten und zu meistern und die Jugendlichen sportlich auf die Woche auf Sylt vorzubereiten.
Jordan: Ganz am Anfang haben wir eine kurze Doku geguckt zum Thema Wellen und Wasser und Sonja hat uns das Projekt vorgestellt.
Sonja: Und dann haben wir uns regelmäßig zu Einheiten mit umweltpädagogischen Themen und Surftheorie getroffen. Einmal haben wir beispielsweise auf Matratzen den „Take Off“ geübt, also wie man richtig auf einem Surfbrett aufsteht, wenn man auf dem Wasser ist. Auch regelmäßige Sporteinheiten, wie Schwimmen oder Slacklinen gehörten zur Vorbereitungsphase. Jede Einheit haben wir mit einer kurzen Mediation beziehungsweise Atemübung eingeleitet.
Jordan: Cool fand ich, als wir am Starnberger See SUP-Surfen waren. Und das Selbstverteidigungsmodul mit Franz war auch toll. Da haben wir uns gegenseitig mit Super-Duper-Boxhandschuhen geboxt und uns richtig ausgetobt. Dabei ging es auch darum, zu merken, was das mit uns macht, wenn uns jemand zu nahe kommt und wie wir Grenzen setzen können.
Anfang August ging’s dann endlich los und ihr seid gemeinsam nach Sylt gefahren. Was hat euch dort erwartet?
Sonja: Vor Ort hat uns eine Gruppe von 19 Jugendlichen und sechs Betreuer*innen erwartet. Die Tage waren sehr strukturiert und durchgetaktet, was nicht immer einfach für uns beide war. Um 7 Uhr klingelte der Wecker…
Jordan: …das war so furchtbar, ich wollte anfangs sogar flüchten…
Sonja: …und dann sind wir immer gleich zum Strand um das Wasser zu genießen. In Kleingruppen haben wir dort zum Beispiel Vertrauensübungen mit den Brettern und Paddelchallenges gemacht.
Jordan: Danach sind wir mit den Brettern über die Dünen zurück in die Jugendherberge gelaufen und haben Mittag gegessen. Am Nachmittag gab es ganz unterschiedliches Programm, am Wasser, oder Angebote in der Jugendherberge. Wir haben Spiele gemacht, mal Armbänder und Ohrringe gebastelt oder sind Skateboard gefahren. Nach dem Abendessen haben wir uns dann auch nochmal getroffen, zu Strandparties oder anderen Gruppenaktivitäten. Und am letzten Abend haben wir dann gemeinsam eine Gender Swap-Party organisiert.
Eine Gender Swap-Party?
Jordan: An diesem Abend haben Jungs und Mädchen die Kleider getauscht. Ich lief als Wolfgang mit ausgestopften Boxershorts rum und manche Jungs haben sich BHs und Kleider von den Mädchen geliehen. Das war sehr lustig.
Was waren jeweils für euch die Herausforderungen bei diesem Projekt?
Jordan: Also meine größte Herausforderung war das Aufstehen (lacht).
Und dann war es zu Beginn schwer für mich, in die Gruppe reinzukommen. Neben mir hat noch eine Gruppe aus Kempten teilgenommen und die kannten sich natürlich schon alle. Die meisten waren mindestens zwei, drei Jahre jünger als ich, was ich erstmal nicht so prickelnd fand. Aber irgendwie hab‘ ich dann ganz schnell rausgefunden, mit wem ich gut kann – ein Mädchen war zum Beispiel ganz ähnlich wie ich, superoffen. Und ich habe dann gemerkt, dass ich mich ganz gut anpassen und auf die Gruppe einlassen kann. Und auf diese Weise war ich dann doch recht schnell dabei. Von einem Teilnehmer habe ich gegen Ende die Rückmeldung bekommen, „am Anfang hatte ich ganz schön Angst vor Dir“; das kann ich verstehen, denn nach 12 Stunden Fahrt habe ich bestimmt keinen berauschenden ersten Eindruck gemacht (lacht).
Sonja: Ich habe mich sehr gefreut zu sehen, welche Schritte Du gemacht hast, Jordan. Du bist ganz oft aus Deiner Komfortzone rausgegangen, angefangen vom Anziehen des Neoprenanzugs über das Annehmen der Tagestruktur bis dahin, wie Du Dich immer mehr in die Gruppe eingebracht hast. Du hast Dich in kürzester Zeit auf die Menschen eingelassen und bist Dir dabei gleichzeitig treu geblieben. Das hat mich sehr beeindruckt.
Für mich als Begleitung war die plötzliche Absage des einen Jugendlichen und die Umstellung von zwei auf eine*n Teilneher*in kurzzeitig sehr herausfordernd und schwierig. Immerhin haben wir uns gemeinsam ein halbes Jahr lang auf dieses Surfcamp vorbereitet und die Idee dahinter war ja eigentlich mit einer – wenn auch kleinen – Gruppen teilzunehmen. Das Projekt über mehrere Monate aufrecht zu erhalten kostete zudem Durchhaltevermögen – gerade auch die Einheiten und Module in das bunte Alltagsgeschehen der Jugendlichen zu integrieren verlangt ein hohes Maß an organisatorischem Geschick.
Was habt ihr für euch persönlich aus diesem Projekt mitgenommen?
Jordan: Das wichtigste Learning für mich war, dass ich nie wieder nach Sylt fahren werde, das ist mir einfach zu kalt und windig (lacht).
Für mich persönlich habe ich mitgenommen, mir selbst aber auch anderen mehr zu vertrauen. Dadurch, dass ich plötzlich die einzige Teilnehmerin aus unserer Gruppe war, war ich viel mehr auf mich allein gestellt und musste mir plötzlich viel zutrauen. Dabei konnte ich aber auch Sonja vertrauen, die mich auf diese Reise toll vorbereitet hat und begleitet hat.
Sonja: Trotz der Herausforderungen in der Vorbereitungsphase und auch bei der Organisation der Reise, würde ich dieses Projekt sofort wiederholen. Für mich sind das Erlebnisse und Erfahrungen, die unser Leben nachhaltig verändern. Zu sehen wie Jordan ihre Chance annahm und sich eine wertvolle Erinnerung schaffte, war unglaublich schön zu beobachten. Auch ich habe viel durch die Durchführung gelernt und weiß nun, was ich bei einem möglichen weiteren Projekt optimieren kann. Ich bin sehr glücklich, dass ich dieses Projekt durchführen konnte und dankbar, dass meine Teamleitung, Christina Heigl, die Geschäftsführung von Neue Wege, Dorit Wiedemann, und die Adventskalenderaktion der Süddeutschen Zeitung mir dies ermöglicht haben.
Jordan, reagierst Du in manchen Situationen heute anders als vor der Surfcamp-Erfahrung?
Jordan: Ich glaube, was sich fast ins Gegenteil verändert hat, ist meine Haltung, die nun gut in diesem Satz zusammengefasst ist: „It is what it is – Ändere, was Du ändern kannst und lass‘, was Du nicht ändern kannst.“ Heute lasse ich mich nicht mehr so schnell von den Umständen oder anderen Personen ärgern, sondern genieße, was da ist (lacht).
Sonja, was würdest Du Kolleg*innen raten, die dieses oder ein ähnliches Projekt mit ihren Jugendlichen starten möchten?
- Eine hohe Frustrationstoleranz mitbringen
- Nicht gleich den Kopf in den Sand stecken
- Den Rahmen für den teilnehmenden Jugendlichen setzen
- Auch mit den Kollegen vor Ort gut im Austausch sein (wer übernimmt welcher Rolle?)
- Einfach machen: nicht soviel denken, sondern sich treiben lassen
- Flexibel und offen reagieren können, weil es läuft leider nicht immer nach Plan.
Titelfoto: Miguel A. Amutio on Unsplash
Weitere Fotos: Sonja Scherber; wirmachenwelle